Rezensionen

Chew 2 – Reif für die Insel

Cover Chew 2Da haben wir einen Comic, der überzogene Gewaltdarstellungen mit unmöglichen Mördertitten kreuzt, in dem ein riesiger Scheißhaufen prominent in Szene gesetzt wird, Figuren „Hundeficker“ genannt und Gesichter verspeist werden. Und die deutschen Medien überhäufen dieses Machwerk mit Lob. Von Spiegel Online über 3sat Kulturzeit und die Frankfurter Rundschau bis hin zur taz: Band 1 heimste hierzulande begeisterte Kritiken ein. Erklären lässt sich das zum einen mit der clever-originellen Thematik: Ein US-amerikanischer Sonderermittler, dem das Verspeisen von Lebensmitteln (oder anderen essbaren Substanzen) telepathische Bilder von der Vorgeschichte des Genossenen beschert, verrichtet seinen ungewöhnlichen Job in einer Welt, in der nach einer angeblichen Mega-Vogelgrippe mit vielen Millionen Opfern Hühnerfleisch wie Alkohol zur Prohibitionszeit verboten ist.

Mit der Lebensmittel- und Seuchenproblematik rennt Autor John Layman natürlich derzeit weit offene Türen ein. Doch statt moralinsaurer Abrechnung mit unserer aus dem Ruder gelaufenen Nahrungsmittelindustrie hat Layman eine teils unheimlich pulpige, teils aberwitzige Krimi- und Verschwörungsgeschichte im Sinn, die – und dies ist neben der Thematik der zweite große Pluspunkt – wirklich gut zieht. Trotz aller schrägen Einfälle und Abzweigungen, welche die Comicerzählung auszeichnen, steht offensichtlich ein von langer Hand ausgetüftelter Storybogen im Hintergrund, der in Band 2 (in dem die US-Comichefte 6-10 gesammelt sind) viel offensichtlicher wird als noch im ersten Band. Und wie Layman die bizarren Fälle seines „Kannibalen-Cops“ Tony Chu mit Verschwörungsparanoia, Spionage-Elementen, Wirtschaftsintrigen und herrlichen Geschmacklosigkeiten ausschmückt, ist schon eine kleine Kunst für sich.

Seite aus Chew 2Bevölkert wird diese Welt, in der man für Lebensmittel mordet, dazu noch von einer Reihe exzentrisch-unterhaltsamer Figuren: Tonys nach einer schweren Verletzung leicht gestörter (Cyborg-)Partner, sein in Regierungsungnade gefallener Ex-Starkoch-Bruder, die von ihm angebetete Restaurantkritikerin Amelia, welche mit ihren Textkritiken körperliche Reaktionen beim Leser auszulösen vermag oder sein bösartiger Vorgesetzter, der hier in einer überraschenden und witzigen Szene eine ganz neue, menschliche Seite offenbart, sind bereits aus Band 1 bekannt. Dazu kommen in den vorliegenden Comicepisoden, in denen es den Ermittler auf die Pazifikinsel Yamapalü verschlägt, noch ein durch Speisen kommunizierender Kochkünstler, ein Inselgouverneur mit großer kulinarischer Vision, eine anatomisch unglaublich gebaute Agentin und ein schlitzohriger Lokalpolizist. Und selbst eine Figur, die im ersten Moment im falschen Genre gelandet zu sein scheint, fügt sich letztendlich perfekt in die Welt von Chew ein. Wer von ihnen letztendlich Teil der fortlaufenden Handlung bleibt und wer unverhofft aus der Geschichte geschrieben bzw. gemordet wird, lässt sich dabei erfreulicherweise kaum absehen.

Figuren und Erzählung hätten aber wohl nur halb so wenig besonderen Appeal, wenn nicht auch der Zeichenstil in gewissem Maße über die Stränge schlagen würde. Die ständig nah an der Karikatur schrammenden, nie schönen, aber auf ihre Weise ungeheuer anziehenden Zeichnungen von Rob Guillory, der wirklich ein Händchen für starke Mimik und kunstvoll überzogene Posen hat, sind für den Erfolg von Chew ebenso wichtig wie Laymans smarte Schreibe. Nicht vorzustellen, wie viel dem Comic verloren gegangen wäre, wenn er statt mit Guillorys Indie-Schick im glatt-attraktiven Mainstream-Look oder einem düster-kritzeligen Vertigo-Stil dahergekommen wäre.

Um den Rezensionskreis zu schließen: Schön, dass dies alles auch über die Comicszene und deren spezielle Medien hinaus erkannt und verkündet wurde. In den USA dürfen sich die zahlreichen Redakteure, die Layman früher mit seinem Storykonzept weggeschickt und schließlich zur Selbstfinanzierung seines Projekts getrieben haben, zu Recht herzhaft in den Hintern beißen.

 
Wertung: 9 von 10 Punkten

Abermals äußerst gelungene Paarung aus smartem Pulp-Verschwörungskrimi, herrlichen Geschmacklosigkeiten und eigensinnig-attraktiven Indiezeichnungen

 

Chew – Bulle mit Biss 2: Reif für die Insel
Verlag: Cross Cult
Text: John Layman
Zeichnungen: Rob Guillory
128 Seiten, farbig, Hardcover
Preis: 16,80 Euro
ISBN: 978-3-942649-19-3
Leseprobe

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Abbildungen © John Layman/Rob Guillory, der dt. Ausgabe: Crosscult

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Interview mit John Layman
Interview mit Rob Guillory

Disclosure/Klarstellung: Die deutsche Ausgabe von Chew 2 wurde von den CG-Redakteuren Marc-Oliver Frisch und Frauke Pfeiffer übersetzt bzw. lektoriert.