Rezensionen

Wie ein leeres Blatt

Cover Wie ein leeres BlattAusgerechnet eine Graphic Novel aus Carlsens neuer Produktschiene für Frauen ist für mich die Comic-Entdeckung des Jahres – dabei war ich doch gar nicht die anvisierte Zielgruppe. Deswegen gleich das ganze Carlsen-Marketing als verunfallt abzukanzeln, wie es bei Zeit Online der Fall war, ist aber vielleicht auch etwas snobistisch, denn Carlsens Prosecco- und Schnittchen-Marketing „for ladies only“ sollte man als Außenstehender vielleicht nicht so bierernst sehen. Gönnen wir den Ladies, die das anspricht, doch den Spaß am Rollenspiel und hoffen wir, dass viele Brigitte-Leserinnen Gefallen an anspruchsvollen graphischen Erzählungen finden. Das nächste Mal sind dann vielleicht auch wieder die angesprochen, die sich diesmal nicht der anvisierten Zielgruppe zugehörig fühlten.

Das vorliegende Buch ist ein typisches Produkt der neuen französischen Schule à la Sfar, Trondheim etc. und erinnert mit seinen Zeichnungen auch an unseren Mawil. Während dieser sich aber meist – durchaus gelungen – mit ebenso gefälligen wie vorhersehbaren kleinen Episoden des Lebens (bisher) zufriedengibt, legt Zeichnerin Pénélope Bagieu hier einen wirklich runden und ergiebigen Roman vor, der sich dennoch völlig ohne Anstrengung liest. Da ist eine Künstlerin am Werk, der man anmerkt, dass sie gelesen werden will. Ihr Partner Boulet hat aber auch eine reizvolle Geschichte vorgelegt.

Seite aus Wie ein leeres BlattDas Buch dreht sich um eine junge Frau, Eloise, die zu Beginn der Geschichte auf einer Bank in Paris sitzt und ihr Gedächtnis verloren hat. Sie kann sich an nichts mehr erinnern: nicht an ihren Namen, nicht an ihre Adresse und schon gar nicht an die Umstände, die sie in diesen Zustand versetzt haben. Zum Glück hat sie noch ihre Handtasche als Rettungsanker (wie es sich in einem Comic für Ladies gehört), und so kann sie ihr erstes Abenteuer bravourös meistern: Das Betreten der eigenen Wohnung. Schon hier werden die Klischees unzähliger Agenten-Räuberpistolen wie XIII oder der Bourne-Verschwörung genüsslich auf den Kopf gestellt, denn Eloises Fantasie spielt in ihrem Kopf selbstverständlich die naheliegenden Szenarien durch: dass in ihrer Wohnung ein Toter sein könnte, das FBI, ein Doppelgänger, Agenten, Gäste für eine Überraschungsparty, ihr untreuer Ehemann usw.

Auf der Suche nach ihrer wahren Identität wird sie immer wieder Opfer solcher irrationalen Vorstellungen. So werden ganz nebenbei auf durchdachte Weise auch einige erzählerische Grundsätze geradegerückt: Nicht das Leben ist langweilig und banal, vielmehr sind es zu viele und mehr schlecht als recht erfundene Krimis, die so gar nichts mit dem wahren Leben zu tun haben.

Seite aus Wie ein leeres BlattWas wirklich zählt, haben Boulet und Pénélope Bagieu wunderbar humorvoll und berührend in ihrer Graphic Novel Wie ein leeres Blatt auf den Punkt gebracht. Dabei geht ihnen auch gegen Ende nicht der erzählerische Atem aus. Im Gegensatz zu vielen neueren Comics dieser Art – auch von Meistern wie Sfar – wird die Spannung bis zum Ende durchgehalten. Das Buch mäandert gegen Ende nicht aus, sondern überzeugt bis zum Schluss.

 

Wertung: 10 von 10 Punkten

Ein echter Höhepunkt des Comic-Jahres 2013.

Wie ein leeres Blatt
Carlsen Verlag, März 2013
Text: Boulet
Zeichnungen: Pénélope Bagieu
Übersetzung: Ulrich Pröfrock
208 Seiten, farbig, Flexocover mit Spot und Gummiband
Preis: 17,90 €
ISBN: 978-3-551-75109-6
Leseprobe (frz.)

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Abbildungen: © der dt. Ausgabe: Carlsen Verlag